Was ist Sensitivity Reading?

Sensitivity Reading wird immer häufiger in Anspruch genommen, um den eigenen Text überprüfen zu lassen, bevor er veröffentlicht wird. Unsere Gastautorin Victoria Linnea erklärt, worum es sich dabei handelt und was es sinnvoll ist, es in Anspruch zu nehmen.

Inhaltsverzeichnis

Sensitivity Reading – Worum handelt es sich?

Sensitivity Reading bedeutet wörtlich übersetzt »Gegenlesen bei sensiblen Themen« und gehört zur Textredaktion. Wie auch beim Lektorat werden sowohl Wortwahl und Ausdruck als auch inhaltlich Darstellungen überprüft, wobei der Fokus darauf liegt, diskriminierende oder stigmatisierende Aussagen aufzudecken.

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Es geht nicht darum, Inhalte oder Wörter zu verbieten. Sensitivity Reading ist ein Angebot für Menschen, die verstehen wollen, wieso bestimmte Ausdrücke problematisch sind und welche Auswirkungen sie haben. Die sich bewusst machen wollen, welche Botschaften zwischen den Zeilen stehen, und sichergehen wollen, dass ihr Text nicht unwissentlich problematische Aussagen beinhaltet. Dieses Angebot gibt es, damit sich Autor*innen thematisch nicht eingrenzen müssen, sondern ihre Geschichten authentisch und lebensnah umsetzen können, auch wenn sie außerhalb ihres Erfahrungshorizontes schreiben.

Beim Sensitivity Reading geht es um mehr als Logik- oder Recherchefehler, die sich im Lektorat schnell beheben lassen, wo eine Türklinke, die nicht in das USA-Setting passt, zu einem Knauf korrigiert wird. (Falls die Romanfigur in einer Szene aber mit dem Schulterriemen der Tasche hängen bleiben soll, dann stellt man ihr eben eine extravagante Stehlampe hin oder begründet, wieso es in diesem US-Gebäude tatsächlich Türklinken gibt.) Und selbst wenn eine Klinke unentdeckt bleibt, mindert es höchstens das Lesevergnügen.

Die fehlerhaften oder missverständlichen Darstellungen, auf die ein Manuskript beim Sensitivity Reading geprüft wird, haben aber gesellschaftliche Auswirkungen, da es um Aussagen geht, die Vorurteile gegenüber marginalisierten Menschen schaffen. Menschen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, weil sie durch ihre Lebensweise, ihre Angehörigkeit, ihre Körperform, Geschlecht, Sexualität, Alter, körperlichen oder psychischen Krankheiten, Behinderungen nicht als Norm angesehen werden. Zu solchen vorurteilshaften Darstellungen kommt es, wenn man mit den Themen, über die man schreibt, kaum Berührungspunkte hat und auf stereotype Bilder zurückgreift.

Logik, Authentizität und Verantwortung

Ausgefallene psychische Krankheiten und schaurige Psychiatrien voller Grauen sind ein beliebtes Motiv. Wenn man mit dem Gruselfaktor einer »Psychoanstalt« spielen möchte, so kann man es tun. Es gibt keine Zensur. Dennoch kann man sich fragen, weshalb man, um eine düstere Atmosphäre zu schaffen, Krankheitsbilder verdreht und unrealistische Zustände und Praktiken, die aus dem letzten Jahrhundert stammen, benutzen will – und welche Auswirkungen solche Darstellungen haben.

Aber auch wenn man über eine ganz normale psychiatrische Klinik mit ganz normalen Patienten schreibt (was ist eigentlich »normal«?), kann man unbewusst problematische Bilder produzieren. Welche Assoziationen erwecken die Worte »Anstalt« und »Insasse«? Welche erwecken »Klinik« und »Patienten«? Wie werden psychische Krankheiten betroffener Menschen überhaupt dargestellt?

Natürlich ist es spannender und es erzeugt Nähe zur Figur, wenn sich ein Serienmörder wie Dexter, der durch ein Trauma eine psychische Störung hat und keine Emotionen empfindet, irgendwie doch verliebt. Aber es ist vom Krankheitsbild her sehr unwahrscheinlich und wirkt daher erzwungen. Noch mehr: Solche Darstellungen erzeugen ein verzerrtes Bild von Krankheiten. Soziopathie muss kein Indiz für Mord sein. Eine Angststörung ist keine PTBS. Depressionen zeichnen sich nicht nur durch Traurigsein aus. Die falschen Bilder führen dazu, dass z. B. Depressionen von Erkrankten selbst oder Mitmenschen nicht erkannt werden oder die Scham ist zu groß, um sich professionelle Hilfe zu suchen; oder dass aktuell Menschen unter dem Hashtag #IamNotDangerous Stigmatisierungen entgegenwirken müssen.

Beispiele gibt es in jedem Themenbereich, ob es sich um Rassismus, Queerfeindlichkeit oder Bodyshaming handelt. Betroffene können durch die unbeabsichtigt diskriminierenden Inhalte verletzt werden und müssen im Alltag gegen die Vorurteile kämpfen, die durch die Medien verfestigt werden. Als Autor*in hat man Macht darüber, welche Stereotype und Vorurteile verstärkt werden, und trägt damit eine gewisse Verantwortung. Daher kann man sich überlegen, ob man diese Stereotypen brechen möchte und Menschen und ihre Lebensweise durch einen weniger vorurteilsbehafteten Standpunkt darstellt.

Wer sind Sensitivity Reader und was ist ihre Arbeit?

Sensitivity Reader haben einen Bezug zur Literatur, sie sind Leser*innen, Blogger*innen, Autor*innen oder Lektor*innen. Ihre Expertise ist die eigene Erfahrung in ihrem Themenbereich, wie zum Beispiel Religion, Rassismuserfahrungen, Gender, Sexualität, chronische oder psychische Krankheiten oder Behinderungen. Darüber hinaus setzen sie sich mit den Diskursen um ihr Thema auseinander und besitzen das Fachwissen. Sensitivity Reader sind, auch wenn sie versuchen die Meinung der Gruppe abzubilden, aber nur Einzelpersonen, die genauso wie Lektor*innen oder Redakteur*innen die Texte unterschiedlich bewerten können.

Sensitivity Reader lesen das gesamte Manuskript und machen Anmerkungen zur Wortwahl oder inhaltlichen Darstellung. Sie prüfen den Text auf diskriminierende Ausdrucksweisen – vor allem solche, die als Mikroaggressionen versteckt sind –, und auf vorurteilvolle Beschreibungen oder Darstellungen.

Ein Gespräch mit Sensitivity Readern ist kein Sensitivity Reading, da nicht garantiert werden kann, ob die Informationen sensibel umgesetzt und authentisch eingebettet worden sind. Auch das Prüfen von lediglich vereinzelten Textausschnitten ist ungenügend für ein Sensitivity Reading. Diese sind dann vielleicht frei von Mikroaggressionen, aber im Plot oder in der fiktiven Romanwelt können dennoch herabwürdigende Aussagen stecken.

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Mikroaggressionen sind kleine Äußerungen, die meist wohlwollend und unvoreingenommen gemeint sind und harmlos erscheinen, aber andere Personen hinsichtlich der Gruppenzugehörigkeit abwerten oder ausschließen. (»Du sprichst aber gut deutsch. Woher kommst du denn?« – »Dieses Kleid steht sogar dir!« – »Toll, wie souverän du als Frau Auto fahren kannst.«)

Wenn Sensitivity Reader problematische Inhalte finden, wird für gewöhnlich nachgefragt, ob es der*die Autor*in auf diese Weise intendiert hat, ob diese Sichtweise zur Romanfigur gehört oder ob diese Ausdrucksweise unbeabsichtigt war. Sensitivity Reader verbieten keine Inhalte oder Ausdrucksweisen, sondern klären auf, weshalb diese diskriminierend oder stigmatisierend sind. Je nach Vereinbarung, schlagen sie Alternativen vor und suchen mit dem*der Autor*in nach Lösungen, um die Aussagen des Romans auf eine andere Weise zu übermitteln. Dennoch liegt es in der Entscheidung und Verantwortung der Autor*innen, was und wie sie es umsetzen wollen.

Beispiel:
»Heinrich ist so ein Mädchen! Wenn er ein richtiger Mann wäre, würde er einfach hingehen und den Konflikt lösen. Notfalls mit der Faust.«

Mögliche Anmerkungen wären: In dieser Aussage steckt drin, dass Mädchen keine Konflikte lösen können. Zudem wird mit der Benutzung von »Mädchen« als Schimpfwort impliziert, dass Mädchen etwas Schlechtes seien. Frauen und Männer werden nicht auf Augenhöhe gegenübergestellt, sondern Mädchen und Männer.

Zweitens werden Verhaltensweisen als »männlich« und »weiblich« definiert ­– ein »richtiger Mann« ist jemand, der tatkräftig ist und notfalls auch Gewalt anwendet. Damit werden Personen abgewertet, die sich bei Konflikten (erst einmal) zurückziehen, und ihre Männlichkeit infrage gestellt. Auch ordnet diese Sichtweise Menschen in die weibliche oder männliche Kategorie ein, als würden sich beide ausschließen und als gäbe es nichts dazwischen. Passt das zur Sichtweise der Perspektivfigur? Soll sie so auftreten? Und wenn ja, wird dieses Auftreten im Manuskript von anderen Figuren reflektiert und/oder bewertet?

Da nicht nur einzelne Wörter oder Sätze, sondern auch gesamte Plots oder erdachte Welten problematische Inhalte aufweisen können, sollte für ein Sensitivity Read genügend Zeit eingeräumt werden. Es kann vorkommen, dass auf Basis des Sensitivity Readings ein*e Autor*in Details in der Welt ändern oder ganze Szenen umschreiben möchte; und es wäre schade, wenn es an Zeit oder Budget mangelt, weil der Veröffentlichungstermin bereits feststeht oder das Lektorat schon beendet wurde. Scheue dich nicht, bereits bei der Stofffindung oder im Entstehungsprozess des Romans mit Sensitivity Readern zusammenzuarbeiten.

Wo finde ich Sensitivity Reader?

Bei der Suche nach Testleser*innen oder Lektor*innen kannst du bei der Anfrage angeben, dass persönliche Erfahrungen in einem bestimmten Gebiet gewünscht sind; beziehungsweise kannst du direkt nach Sensitivity Reading fragen. Da der Begriff Sensitivity Reading im deutschsprachigen Raum noch recht unbekannt ist, wird diese Arbeit oftmals unbewusst erledigt, d. h. es werden nur Themen überprüft, mit denen sich die Person zufällig auskennt – und sie wird in ihrem Umfang zu wenig wahrgenommen.

Wichtig ist, passende Sensitivity Reader zu dem Thema, das Sie in Ihrem Roman behandeln, zu finden. Sind deine Testleser*innen und dein*e Lektor*in nicht auf das sensible Thema spezialisiert, findest du auf sensitivity-reading.de Prüfer*innen zu den jeweiligen Themenbereichen.

Sensitivity Reader:
Tristan Lánstad
Elea Brandt

victoria linnea
Victoria LinneaGastautorin
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Victoria Linnea ist freie Lektorin und Schreibcoach. Sie ist Mitgründerin vom Autorenforum Wortkompass, in dem sie Schreibkurse gibt und Autor*innen motiviert, und eine der Initiatorinnen von sensitivity-reading.de. Mit einem Berliner Team stellt sie das Literaturcamp Berlin auf die Beine. Wenn Zeit übrig bleibt, twittert und bloggt sie übers Schreiben und über ihre Arbeit. Der Kaffee ist ihr bester Freund.

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